Offener Brief an Premierminister Jean-Claude Juncker anlässlich des EU-Gipfels am 17. und 18. Juni 2010

Communiqués de presse - juin 17, 2010
Sehr geehrter Herr Premierminister, die Klimapolitik der Europäischen Union steht auf der Tagesordnung des morgen beginnenden EU-Gipfels. Genauer gesagt geht es um eine Studie, welche die EU-Kommission Ende Mai vorgestellt hat und welche die möglichen Auswirkungen einer Erhöhung des Treibhausgas-Reduktionsziels der Europäischen Union von minus 20% auf minus 30% im Jahr 2020 analysiert (1). Die derzeitige Position der EU ist, einer Erhöhung des Reduktionsziels nur unter der Bedingung zuzustimmen, dass andere Partner der Klimarahmenkonvention sich zu „vergleichbaren“ Reduktionen verpflichten würden.

Ein Reduktionsziel von minus 30% bis 2020 ist, entgegen den Darstellungen einiger energieintensiver Industrien, keine Gefahr, sondern eine Notwendigkeit für Europa. Die EU-Kommission schreibt in der Zusammenfassung ihrer Studie:

"The implementation of policies to cut greenhouse emissions is acting as one of the key drivers for the modernisation of the EU economy, directing investment and innovation to sectors with huge potential for growth and employment in the future. As set out in the Europe 2020 strategy, it is one of the core themes in any credible strategy to build sustainable prosperity for the future."

Die Notwendigkeit verstärkter Klimaschutzanstrengungen und deren Vorteile für die Zukunft Europas sind offensichtlich: Klimaschutz ist der Motor für die Modernisierung der EU-Wirtschaft, für direkte Investitionen und Innovationen in Bereichen mit hohem Wachstums- und Arbeitsplatzpotential. Wie bereits die Strategie "Europe 2020" darlegt, ist Klimaschutz eines der Kernthemen in einer glaubwürdigen Strategie zur Schaffung von nachhaltigem Wohlstand für die Zukunft.

Die EU-Kommission geht davon aus, dass die EU die im Jahr 2008 beschlossene Verringerung der Treibhausgasemissionen von minus 20% bis 2020 allein durch inländische Maßnahmen erreichen wird. Die Gründe hierfür sind vielfältig: vor allem die wirtschaftliche Rezession, gestiegene Energiekosten und eine geringere Energienachfrage, aber auch der Zuwachs bei Erneuerbaren Energien und Energieeffizienz-Maßnahmen. Die Kosten werden mit 48 Milliarden Euro deutlich niedriger geschätzt als die im Jahre 2008 prognostizierten 70 Milliarden Euro.

Die EU-Kommission warnt jedoch davor, sich auf diesem scheinbaren Erfolg auszuruhen. Es besteht die Gefahr, dass ab 2020 die Reduzierung der klimaschädlichen Gase nur noch langsam, zu langsam, vorankommt. Ohne strengere Klimaschutzziele bleiben die notwendigen Investitionen in energie- und kohlenstoffarme Technologien und Erneuerbare Energien aus, unter anderem bedingt durch die Wirtschaftskrise, die massive Anhäufung von Gratis-Emissionsrechten bei den energie- und kohlenstoffintensiven Industrien des ETS-Sektors und dem daraus resultierenden niedrigen Kohlenstoffpreis.

Gerade jetzt ist es umso wichtiger, beim Klimaschutz ambitiöse Ziele zu beschließen.

Die Studie der EU-Kommission kommt zu dem Schluss, dass eine Erhöhung des Klimaschutzzieles von minus 20% auf minus 30% bis 2020 eine Vielzahl bedeutender Vorteile mit sich bringt, sowohl aus Sicht des Klimaschutzes als auch aus volkswirtschaftlicher Sicht:

  • Einhaltung langfristiger Klimaschutzziele

Ein EU-Reduktionsziel von lediglich 20% bis 2020 ist nicht im Einklang mit den aus wissenschaftlicher Sicht notwendigen Reduktionen bei den Treibhausgasemissionen. Damit die globale Temperaturerhöhung von 2°C nicht überschritten wird, müssen die Industrienationen bis 2020 ihre Emissionen um mindestens 40%, bis 2050 sogar um 95% reduzieren. Selbst bei einem Temperaturanstieg von 2°C schätzen die Vereinten Nationen, dass bis 2050 mehr als 200 Millionen Menschen ihre Dörfer, Städte, Inseln oder Landstriche verlassen müssen, dass 30 Millionen Menschen mehr an Hunger leiden werden und dass 2-3 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser haben werden.

Je schneller die EU weitreichende Emissionsreduktionen beschließt, umso einfacher und kostengünstiger wird die Einhaltung langfristiger Klimaschutzziele. Laut Berechnungen der Internationalen Energieagentur (IEA) steigen die globalen Kosten mit jedem Jahr, in denen Investitionen in energieeffiziente Technologien verschoben werden, um 300-400 Milliarden Euro.

  • Größere Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern

Bereits im Jahr 2008 hatte die IEA davor gewarnt, dass bereits in wenigen Jahren mit steigenden Energiekosten zu rechnen ist, bedingt durch eine steigende Nachfrage nach Öl bei anziehender Konjunktur, verbunden mit einem nicht ausreichenden Angebot an Öl. Die drohende Knappheit an Öl und eine prognostizierte deutliche Steigerung der Energiekosten werden die Haushalte und die europäischen Volkswirtschaften empfindlich belasten. 

Ambitiöse Klimaschutzziele führen zu einer Verringerung des Energieverbrauchs und damit zu einer Verringerung unserer Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen. Die EU-Kommission schätzt, dass ein Reduktionsziel von minus 30% bis 2020 zu Einsparungen bei den Energiekosten von 40 Milliarden Euro im Jahr 2020 führt. Langfristig ist eine verminderte Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen auch ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die Armut, denn insbesondere Erdöl importierende Entwicklungsländer werden von den Preiserhöhungen des Rohstoffs Erdöl besonders hart getroffen und in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeworfen.

  • Impuls für Innovation und Kompetitivität des Wirtschaftsstandorts Europa

Es besteht mittlerweile ein genereller Konsens, dass die Entwicklung ressourceneffizienter und grüner Technologien ein wichtiger Motor für die Wirtschaft ist. Das EU-Programm "Europa 2020" hat als Kernaussage, dass sich die wirtschaftliche Basis Europas zu einer nachhaltigen Wirtschaft entwickeln und die Chancen der grünen Technologien nutzen muss.

Die EU-Kommission mahnt in ihrer Studie an, dass der Vorsprung Europas bei den grünen Technologien zusehends von anderen Wirtschaftsnationen wie China, den USA und Indien eingeholt wird. Europas Führungsrolle in diesen wichtigen Märkten wie z.B. bei der Windenergie oder bei der Photovoltaik droht, verloren zu gehen.

Hunderttausende neuer Arbeitsplätze könnten im Bereich von Energieeffizienztechnologien und bei den Erneuerbaren Energien entstehen. Ein Reduktionsziel von minus 30% würde einen entscheidenden Impuls für eine solche Entwicklung geben.

  • Kostenverringerung bei Luftreinhaltung und Gesundheitsausgaben

Die EU-Kommission schätzt die zusätzlichen Kostenverringerungen bei Luftreinhaltung und im Gesundheitsbereich aufgrund eines ambitionierten Klimaschutzes auf 3 Milliarden Euro bzw. 3,5-8 Milliarden Euro (im Jahr 2020).

Eine Erhöhung auf minus 30% wäre für die EU mit verhältnismäßig geringen Mehrkosten verbunden: 81 Milliarden Euro, das sind 11 Milliarden Euro mehr als 2008 für das 20%-Ziel veranschlagt.

Die EU-Kommission geht davon aus, dass die Auswirkungen einer Erhöhung des Reduktionsziels auf die europäische Industrie insgesamt gering bleiben. Zwar gibt es einige wenige Industriesektoren, für die ein unilaterales 30%-Ziel zu Wettbewerbsnachteilen führen könnte, doch sieht die EU-Kommission geeignete Mittel, die hiervon potentiell betroffenen Industrien zu unterstützen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass einer rezenten Analyse (2) zufolge gerade diese energieintensiven Industrien in den vergangenen Jahren aufgrund der Gratiszuteilung von Emissionsrechten und der Weiterleitung von deren scheinbaren Kosten an die Verbraucher so genannte "Windfall Profits" in einer Höhe von schätzungsweise 14 Milliarden Euro erzielt haben. Wir halten es für durchaus gerechtfertigt, dass diese völlig unberechtigt erzielten Gewinne von den Industrien für Modernisierungs- und Energieeffizienzmaßnahmen eingesetzt werden sollten.

Sehr geehrter Herr Premierminister,

anlässlich einer Unterredung Ende Januar hatten Sie uns bereits versichert, dass Luxemburg eine Erhöhung des EU-Reduktionsziels auf minus 30% bis 2020 unterstützen wird. Die in der Initiative "Votum Klima" zusammengeschlossenen Organisationen (3) begrüßen Ihre Position ausdrücklich.

Wir würden es für außerordentlich wichtig erachten, wenn Sie sich bei diesem EU-Gipfel für eine unilaterale Erhöhung des EU-Reduktionsziels von minus 20% auf minus 30% bis 2020 einsetzen würden. Ein solcher Schritt wäre ein wichtiger Schritt für eine nachhaltige Entwicklung Europas und ein positives Signal für die kommenden UN-Klimaschutzverhandlungen Ende des Jahres in Cancun.

Hochachtungsvoll,

Martina Holbach

Koordination Votum Klima

Notes:

(1) Analysis of options to move beyond 20% greenhouse gas emission reductions and assessing the risk of carbon leakage, Communication from the Commission to the Council, the European Parliament, the European Economic Committee and the Committee of the Regions, 26 May 2010
(2) CE Delft (2010), Does the energy intensive industry obtain windfall profits through the EU ETS? www.ce.nl/publicatie/does_the_energy_intensive_industry_obtain_windfall_profits_through_the_eu_ets/1038
(3) Aide à l’Enfance de l’Inde, Aktioun Öffentlechen Transport, Association de Soutien aux Travailleurs Immigrés (ASTI), Action Solidarité Tiers Monde (ASTM), Attac, bioLABEL, Église Catholique à Luxembourg, Bridderlech Deelen, Caritas Luxembourg, Cercle de Coopération, Conférence Générale de la Jeunesse Luxembourgeoise, Committee de Liaison des Associations Etrangers (CLAE), Demeter Bond Lëtzebuerg, Etika, European Antipoverty Network, Eurosolar Lëtzebuerg, Frères des Hommes, Greenpeace Luxembourg, Handicap International, d´Haus vun der Natur, Fondation Hëllef fir d’Natur, Commission Justitia et Pax, Lëtzebuerger Natur- a Vulleschutzliga, Lëtzebuerger Velos-Initiativ, Mouvement Écologique, Natura, SOS Faim Luxembourg, TransFair-Minka, UNICEF