Kaspar Müller, unabhängiger Finanzmarktexperte, deckt gravierende Mängel in der Bilanzierung der beiden AKW Leibstadt und Gösgen auf. Dies führt zu einer künstlichen Verbilligung von Atomstrom und zur Irreführung der Steuerzahler.

Greenpeace: Herr Müller, Sie haben die Bilanzen der Schweizer AKW analysiert. Zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen?

Kaspar Müller: Zu schier unglaublichen. Die Kernkraftwerk Leibstadt AG (KKL) und die Kernkraftwerk Gösgen-Däniken AG (KKG) tricksen in ihren Bilanzen und verstossen offensichtlich gegen das Obligationenrecht. Und das alles wird von den Revisionsgesellschaften KPMG und Ernst & Young abgesegnet. Für mich ist unverständlich, dass andere Finanz-, Rechnungslegungs- und Rechtsexperten sowie die Universitäten einfach schweigen dazu.

Warum sollten Gösgen und Leibstadt ihre Bilanzen frisieren?

Erstens brauchen sie die verfälschten Bilanzen, um für den Atomstrom zu tiefe Gestehungskosten auszuweisen. Zweitens verschleiern sie damit die desolate wirtschaftliche Lage ihrer Unternehmen, die sie finanziell sanieren müssten.

Wie kamen Sie dazu, sich mit dem Thema zu beschäftigen?

Vor sechs Jahren hatte ich einen interessanten Auftrag der EU. Die verschiedenen Entsorgungs- und Stilllegungsfonds der EU-Länder wurden verglichen. Ich durfte einen Grossteil dieses Reports schreiben und musste mich dafür tief in die Materie einarbeiten. Danach habe ich die Jahresberichte von Leibstadt und Gösgen angeschaut und konnte die Zahlen nicht nachvollziehen. Also habe ich mich immer weiter vertieft und viel Zeit investiert. Übrigens hat mich niemand dafür bezahlt. Ich habe das als Privatperson gemacht, weil ich verstehen wollte, was da abgeht.

Was läuft falsch?

Ich möchte betonen, dass ich nichts zu technischen Sicherheitsfragen sagen kann. Ich äussere mich nur zu Accounting und Finanzierung, damit beschäftige ich mich beruflich seit über dreissig Jahren. Zuerst möchte ich aber etwas zur ökonomischen Struktur sagen: Die beiden Kernkraftwerke sind Aktiengesellschaften — die Aktien gehören unter anderem den grossen Energieunternehmen Axpo, Alpiq oder BKW und somit einer Reihe von Kantonen und Städten. In diesen Aktiengesellschaften hat aber keiner die Mehrheit, deshalb wird auch niemand die Verantwortung übernehmen. Gerät nun eine AKW-Gesellschaft ökonomisch in Schwierigkeiten, müssen laut Gesetz die anderen AKW-Betreiber Geld einschiessen, sofern sie das überhaupt noch können. Doch im Kernenergiegesetz steht auch, dass der Bund einspringt, wenn es für die Betreiber von Kernkraftwerken «wirtschaftlich nicht tragbar ist», dafür aufzukommen. Die Kernkraftwerke haben damit faktisch eine Staatsgarantie.

Das heisst, wenn ein AKW pleitegeht, zahlen die Steuerzahler?

Richtig. Und das würde sicher dramatisch, weil Kantone, die schon seit Längerem bewusst aus der Kernenergie ausgestiegen sind — wie zum Beispiel Basel-Stadt —, sicher nicht zahlen wollen. Dass die Kernkraftwerke einmal nicht mehr zahlen können, davon muss man ausgehen, weil die Kosten für den Atomstrom, aber auch für die Stilllegung der Reaktoren und die Entsorgung des radioaktiven Abfalls völlig unterschätzt werden. Der Bund geht davon aus, dass das Endlager bis ins Jahr 2116 in Betrieb ist — woher soll das Geld kommen, um in diesen hundert Jahren die Kosten zu decken? Wenn man alles sauber rechnet, sind es allein in den nächsten 18 Jahren mindestens 26 Milliarden, die aufgebracht werden müssten. Rund 5 Milliarden sind heute in die Fonds einbezahlt — es fehlen also noch über 20 Milliarden.

Wie konnte es so weit kommen?

Man hat in den letzten Jahren zu optimistisch gerechnet, weil man auch glaubte, mit dem Geld, das schon in den Fonds liegt, satte Renditen herauszuholen. Der Bund hat bemerkt, dass man zu optimistisch war, und kürzlich die Vorgaben für die nächsten 18 Jahre angepasst …

Danach sollten Gösgen und Leibstadt vom Netz sein.

Genau. In dieser Zeit rechnet der Bund mit einer durchschnittlichen Inflation von 1,5 Prozent und einer Anlagerendite von 3,5 Prozent. Zudem baut er richtigerweise bei den Kosten eine Sicherheitsmarge von 30 Prozent ein. Es ist klar, den nuklearen Abfall müssen wir entsorgen und die Rechnung bezahlen. Doch sollen die Verursacher und nicht die Steuerzahler dafür aufkommen.

Warum ist nicht bereits mehr Geld in den Fonds? Die Kraftwerke sind ja seit 30 oder mehr Jahren in Betrieb.

Die Werke haben erst 1985 begonnen, in den Stilllegungsfonds einzuzahlen. Damit soll dann der Rückbau der AKW finanziert werden. Den Entsorgungsfonds — mit dem die sichere Langzeitlagerung des radioaktiven Abfalls bezahlt werden soll — haben sie sogar erst ab 2001 geäufnet. Das widerspricht dem Vorsichtsprinzip. Ich nenne das unverantwortlich und Missmanagement — und es hat bewirkt, dass die Kosten für Atomstrom falsch, nämlich zu billig dargestellt wurden. Atomstrom war nie wirtschaftlich und wird es nie sein. Das rächt sich heute doppelt, weil die AKW ihren zu teuren Strom nicht mehr loswerden, obwohl sie angeblich sehr tiefe Gestehungskosten haben. Würde man korrekt rechnen, lägen diese pro Kilowattstunde nicht bei 4 oder 5 Rappen, wie die Betreiber behaupten, sondern bei deutlich über 10, eher gegen 20 Rappen. Zudem sind die Anlagen nicht adäquat versichert, sonst wäre dieser Strom noch viel teurer.

Zurück zu den Bilanzen: Wie wird getrickst?

Es gibt mehrere gravierende Fehler. Einer betrifft die Wertschriften im Stilllegungsrespektive im Entsorgungsfonds, die in den Bilanzen der Betreiber falsch bewertet werden. Gösgen wie Leibstadt setzen nicht den realen Marktwert ein, sondern einen hypothetischen, wesentlich höheren Wert, der theoretisch einmal an der Börse erzielt werden könnte. Das ist illegal, das Obligationenrecht lässt das nicht zu. Bei den beiden AKW Beznau und Mühleberg wird es korrekt gemacht. Da sind übrigens dieselben Revisionsfirmen involviert, sie wissen also, dass die Buchführung von Leibstadt und Gösgen gegen das Gesetz verstösst.

Greenpeace und der Trinationale Atomschutzverband hatten Gösgen und Leibstadt vor zwei Jahren angezeigt. Das führte aber zu nichts.

Stimmt. Und das ist absolut nicht nachvollziehbar. Die Solothurner Staatsanwaltschaft schrieb in ihrer Einstellungsverfügung, das Eigenkapital von Gösgen wäre damals zu beinahe 80 Prozent aufgebraucht gewesen. Sie räumte ein, «Sanierungsmassnahmen wären unumgänglich gewesen». Sie teilte also meine Analyse, schob dann aber nach: «Da es sich jedoch ausschliesslich um Buchverluste gehandelt hat und insbesondere die Liquidität der Unternehmung nicht tangiert war, machen die vom Obligationenrecht vorgesehenen Sanierungsmassnahmen schlicht keinen Sinn.» Deshalb wurde das Verfahren eingestellt. Das ist unglaublich! Es obliegt nicht der Staatsanwaltschaft, das Gesetz zu interpretieren — sie muss es anwenden. Es wäre, wie wenn jemand mit 100 Stundenkilometern durch ein Dorf fährt, weil er es eilig hat. Die Polizei erwischt ihn, doch danach heisst es, dass das Gesetz in diesem Fall nicht anzuwenden sei, weil er sonst ja zu spät gekommen wäre. Die Einstellungsverfügung der Aargauer Staatsanwaltschaft bezüglich Leibstadt war übrigens identisch.

Die AKW Beznau und Mühleberg führen korrekt Buch. Das überrascht.

Soweit ich das sehen kann, schon. Aber es gibt keine detaillierten Zahlen, weil die beiden Kernkraftwerke keine eigenen Aktiengesellschaften sind, sondern in die Axpo AG respektive die BKW Energie AG integriert sind.

Sie haben weitere Fehler erwähnt. Worum geht es da?

In der Erfolgsrechnung werden kalkulatorische Wertschriftenerträge verbucht, Erträge also, die man nicht erzielt hat. Ohne diese fiktiven Erträge hätten Leibstadt und Gösgen keine Dividende bezahlen können. Und in den Bilanzen von KKL und KKG finden sich Aktivposten namens «zu amortisierende Kosten für Nachbetrieb, Stilllegung und Entsorgung». Diese Kosten als Aktiva zu führen, verstösst ebenfalls gegen das Obligationenrecht. Das darf man nicht!

Wie viel fehlen dann am Ende bei Gösgen und bei Leibstadt?

Ende 2011 sind es bei der KKG 969 Millionen Franken gewesen, bei der KKL 868 Millionen. Nach Gesetz müsste der Verwaltungsrat Konkurs anmelden oder schleunigst sanieren. Dann müssen die Aktionäre, also die Kantonsregierungen dazu stehen und sagen: Liebe Steuerzahler, wir müssen die beiden Kernkraftwerke mit rund je einer Milliarde neuem Kapital ausstatten. Das wollen sie aber nicht.

Wie soll es weitergehen?

Wichtig ist, dass die Steuerzahler merken, dass es sich hier um gravierende Gesetzesverstösse handelt, die man auch bei anderen Unternehmen anzeigen müsste. Es sind übrigens Offizialdelikte. Und natürlich erwarte ich von den Staatsanwaltschaften, dass sie von sich aus gegen die Betreibergesellschaften KKG und KKL vorgehen. Auch die Revisionsbranche müsste reagieren, denn sie darf sich nicht zur Komplizin von Unternehmen machen, die gegen das Obligationenrecht verstossen.

Das Interview wurde von Susan Boos geführt.

Kaspar Müller, Präsident der Ethos Stiftung, informiert die Medien in Zürich. © Alessandro Della Bella

Kaspar Müller (62) lebt in Basel. Der unabhängige Ökonom und Finanzmarktexperte amtet unter anderem als Präsident von Ethos Genf. 1991 bis 2012 war er Mitglied der Fachkommission Swiss GAAP FER, die sich mit den Fragen der korrekten Bilanzierung beschäftigt.