Veröffentlicht am 16. Oktober im Luxemburger Wort von Jennifer Morgan, Executive Director Greenpeace International
Im Vorfeld der wichtigsten Klimakonferenz seit dem Pariser Abkommen werden die großen Umweltverschmutzer und Regierungen, denen Profite wichtiger sind als die Menschen und der Planet, nicht müde, der Öffentlichkeit vorzugaukeln, dass sie die Klimakrise nun endlich ernst nehmen. Wir werden von ihnen mit “Netto-Null”-Versprechen abgespeist, ohne dass sie tatsächlich etwas für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen tun.
Greenpeace unterstützt das angestrebte Ziel, bis 2050 weltweit Netto-Null-Emissionen zu erreichen, wie es von der Wissenschaft gefordert wird. Wir kritisieren jedoch Politiker und Unternehmen, die Netto-Null-Zusagen und Kompensationsversprechen (“Carbon Offsetting”) machen, die weder überprüft noch reglementiert werden. Bei der Kompensation geht es darum, dass man dafür bezahlt, dass jemand anderer Treibhausgase reduziert oder entfernt, während man selbst weiterhin Kohlenstoff in die Atmosphäre pumpt. Das ‘Net-Zero’-Ziel läuft Gefahr, als Greenwashing und Ablenkungsmanöver von Unternehmen missbraucht zu werden, für die Profit und Wachstum über Umweltschutz und der Lösung der Klimakrise steht.
Die Regierungen und Unternehmen, die zwei Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung erbringen, haben sich verpflichtet, ihre Emissionen bis zur Mitte des Jahrhunderts auf Null zu senken. Die meisten wollen dies mittels Kohlenstoffkompensationen oder zweifelhaften Technologien erreichen. Es fehlt jedoch ein solider und glaubwürdiger Zertifizierungsmechanismus für diese angeblich emissionsmindernden Strategien. Statt den Klimanotstand ernst zu nehmen, werden Täuschungsmanöver praktiziert, von dem die schlimmsten Umweltverschmutzer profitieren.
Schauen wir uns JBS an, das größte fleischverarbeitende Unternehmen der Welt. Die Netto Null-Ankündigung des Unternehmens bedeutet lediglich ein Zwischenziel von 30% für die Emissionsintensität aus Quellen, die dem Unternehmen gehören oder von ihm kontrolliert werden (Scope 1), sowie aus der Erzeugung von zugekaufter Energie (Scope 2) bis 2030, zusammen mit der Zusage, bis 2040 auf 100% erneuerbare Energien umzusteigen. Das mag gut klingen, aber das Unternehmen gibt selbst zu, dass die sogenannten “Scope 3”-Emissionen mehr als 90% seiner Gesamtemissionen ausmachen. “Scope 3”-Emissionen sind Emissionen aus der Liefer- bzw. Wertschöpfungskette, sei es z. B. aus der Viehzucht der Zulieferer, sei es aus der Abholzung von Weideflächen sowie aus der Produktion von Düngemitteln oder aufgrund der Emissionen der Tiere selbst.
JBS hat angekündigt, 100 Millionen Dollar für die Erforschung von Möglichkeiten zur Verringerung einiger dieser Emissionen in der Wertschöpfungskette auszugeben, z. B. durch fragwürdige und von der Agrarindustrie bevorzugte “regenerative Anbaumethoden”. Ein geringer Betrag im Vergleich zu den 1 Milliarden US-Dollar, die JBS nach eigenen Angaben für Projekte zur Verringerung der Scope 1- und 2-Emissionen ausgeben wird. Zwar wird eine neue Frist für die Beendigung von Lieferungen aus der Abholzung von Wäldern versprochen. Grundsätzlich hat das Unternehmen jedoch keinen expliziten Plan, wie es mit der überwältigenden Mehrheit der Emissionen umgehen will, die den Kern seines Geschäftsmodells ausmachen: Emissionen aus der Viehzucht.
Shell, das sich selbst das Ziel gesetzt hat, seine Kohlenstoffemissionen bis 2050 auf Null zu reduzieren, plant jedoch eine Ausweitung der fossilen Gasproduktion um 20%, die das Unternehmen durch Kohlenstoffabscheidung und “naturbasierte Lösungen” (nature based solutions”, NBS) ausgleichen will. Die von vielen Unternehmen für fossile Brennstoffe bevorzugte NBS ist die Anpflanzung von Bäumen in Monokulturen, von denen sie behaupten, sie würden ihren Kohlenstoff-Fußabdruck “klimaneutral” machen. Dies ist ein gefährlicher Missbrauch des Konzepts, da der Großteil dieser Initiativen Holz, Zellstoff, Kautschuk und andere Natur-Rohstoffe produziert. Das Pflanzen von Billionen von Bäumen ist keine Lösung für den Klimawandel, und wenn es für Kompensationszwecke missbraucht wird, handelt es sich nur um Buchhaltungstricks.
Netto-Null-Zusagen wie jene von Shell oder JBS, die auf Kompensationsmechanismen zurückgreifen, können die notwendigen Emissionssenkungen und den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen einfach nicht ersetzen. Sie alle bergen das Risiko von Menschenrechtsverletzungen und wirken sich nachteilig auf bereits gefährdete Gemeinschaften aus. Bei naturbasierten Kompensationsmaßnahmen, die sich stark auf die Landnutzung im globalen Süden stützen, besteht die Gefahr, dass die Verantwortung für Emissionen, die von wohlhabenden Nationen verursacht wurden, auf diejenigen abgewälzt wird, die bereits am meisten mit den Auswirkungen der Klimakrise zu kämpfen haben.
Kompensationen werden im Mittelpunkt der Klimaverhandlungen im November in Glasgow stehen, wenn ein globaler Kohlenstoffmarkt diskutiert wird. Viele Entwicklungsländer haben deutlich gemacht, dass die Verhandlungen über einen Kohlenstoffmarkt, der unter Artikel 6 des Pariser Abkommens fällt, nicht überstürzt werden sollten, nur damit auf der COP26 ein politisches Ergebnis erzielt werden kann. Ein globaler Kohlenstoffmarkt würde den Kauf und Verkauf von Kompensationsmechanismen ermöglichen und auf die Natur und die indigenen Gemeinschaften einen unerträglichen Druck ausüben. Um die Menschenrechte, insbesondere die Rechte indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften, zu schützen und die Unversehrtheit der Umwelt zu gewährleisten, wäre kein Ergebnis bei den Märkten für Kohlenstoffkompensationen gemäß Artikel 6 akzeptabel.
Wenn es um Netto-Null-Emissionen geht, müssen einfache und transparente Pläne das Gebot der Stunde sein. Diese Strategien müssen separate Ziele für die drastische Verringerung der Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe und anderer industrieller Aktivitäten, wie z.B. durch die Auswirkungen der Landnutzung, vor allem durch die Abholzung von Wäldern, haben. Sie sollten zu einer Verringerung der Fleisch- und Milchproduktion führen und verstärkte Verpflichtungen zum rechtsbasierten Naturschutz und zur Wiederherstellung der Natur beinhalten.
Darüber hinaus müssen die Regierungen verbindliche Gesetze erlassen, die Unternehmen für ihre Treibhausgas-verursachenden Aktivitäten zur Verantwortung ziehen.So sollte es Unternehmen mit einer unzulänglichen Kohlenstoffbilanz verboten werden, externe Dividenden zu zahlen. Arbeitnehmer, die an Aktienbeteiligungsprogrammen beteiligt sind, würden nicht einbezogen, da es sich bei den Dividenden um eine Arbeitsvergütung handelt. Die in klimazerstörende Wirtschaftsaktivitäten investierten Finanzanlagen würden also schnell an Wert verlieren, da sie durch den entsprechenden Kursverfall zu verlorenen Vermögenswerten (“stranded assets”) werden. Staatliche Anteilseigner würden noch mehr darauf achten, diese Unternehmen zur Kohlenstoffneutralität zu leiten.
Die Zeit für freiwillige Selbstverpflichtungen ist vorbei: Einflussnehmer müssen sich proaktiv dafür einsetzen, dass Gesetze mit Sanktionen erlassen werden, die zu einer Dekarbonisierung unseres Energiesektors, unseres Agrarsektors und unseres Finanzsektors führen.
Alle Teile der Gesellschaft, von der Regierung über die Wirtschaft bis hin zu lokalen Gemeinschaften und indigenen Völkern, müssen auf gerechte und ausgewogene Weise zusammenarbeiten, um die dringend benötigten Lösungen für den Klima- und Biodiversitätsnotstand zu finden. Wir sind ein Teil der Natur, und wenn wir die Natur schützen, schützen wir uns selbst. Gefährliche Klimalügen wie “Carbon Offsetting” werden dies jedenfalls nicht tun.
