Von Raymond Aendekerk und Benny Haerlin*

Die Ansprüche der Gesellschaft an die Landwirtschaft sind groß und vielseitig. Wir alle wollen selbstverständlich Lebensmittel in ausreichenden Mengen, die aus gelungenen Kulturlandschaften stammen. Doch unser industrielles Agrarsystem stößt längst an seine Grenzen. Die landwirtschaftliche Fläche wird geringer, die Biodiversität leidet seit Langem und die Klimakrise setzt die Landwirtschaft als Verursacherin und Opfer zunehmend unter Druck.

Im aktuellen Wahlkampf wird zwar kreuz und quer über diese Themen debattiert. Doch es fehlt eine tiefgreifendere Reflexion und Debatte darüber, wie unsere Landwirtschaft wieder zu einer wahren Agrarkultur werden kann. Die Agrarindustrie, die bereits heute die Bauern und Bäuerinnen mit Kunstdünger, Pestizide und hybrides Saatgut fest im Griff hat, sieht neben der Digitalisierung vor allem in der neuen Gentechnik (NGT) ein lukratives Geschäft und hat in Brüssel bereits mit großem Erfolg Lobbyarbeit gemacht.

Der aktuelle Vorschlag der Europäischen Kommission zur Deregulierung der neuen Gentechnikverfahren stammt weitgehend aus ihrer Feder. Er sieht pauschal vor, Pflanzen, bei denen an bis zu 20 Stellen des Erbguts jeweils bis zu 20 Basenpaare gentechnisch verändert wurden, dennoch wie herkömmlich gezüchtete Pflanzen zu behandeln; ebenso gentechnisch veränderte Organismen (GVO), bei denen DNA-Abschnitte von beliebiger Länge entfernt oder umgekehrt wurden. Dabei kann das Hinzufügen, Entfernen oder Vertauschen schon einzelner Basenpaare im Erbgut bereits einen gewaltigen Unterschied für das Funktionieren einer Zelle und die Eigenschaften eines ganzen Organismus machen.

Die EU-Kommission will für diese neuen Gentechnikpflanzen keine individuelle Risikoprüfung und Zulassung mehr. Sie müssten nicht länger rückverfolgbar und rückholbar sein und sie müssten vor allem nicht mehr als GVO gekennzeichnet werden. Die VerbraucherInnen könnten nicht mehr selbst entscheiden, ob sie Gentechnik in ihrem Essen haben wollen oder nicht. Das wäre das Ende der vorsorgenden und transparenten Gentechnikgesetzgebung, wie sie seit 1990 in verschiedenen Richtlinien und Verordnungen der EU besteht und fortentwickelt wurde. Es geht jetzt dabei wohlgemerkt nicht darum, wie manche uns glauben machen wollen, um eine Entscheidung darüber, ob diese neuen Gentechniken eingesetzt werden können, sondern darum, wie sie reguliert werden. Es geht um Transparenz, das Vorsorgeprinzip und Wahlfreiheit für uns alle.

Eine neue Geschichte über die Gentechnik

Für die neue Gentechnik, die nicht mehr als Gentechnik behandelt werden soll, will die Kommission sogar eine neue Bezeichnung einführen: „neue genomische Techniken“ (NGT). Gemeint ist damit in erster Linie die auch als „Genschere“ bezeichnete CRISPR-Cas-Technologie, durch die an genau definierbaren Stellen des Genoms ein Doppelbruch der DNA erzeugt wird.

Die Befürworter der Deregulierung argumentieren, dass es sich bei dieser „Genom-Editierung“ lediglich um „gezielte Mutationen“ handele, die auch auf natürliche Art oder durch herkömmliche Züchtung entstehen könnten. Die Risiken für Umwelt und menschliche Gesundheit seien deshalb grundsätzlich nicht höher als bei Produkten konventioneller Züchtung. Zudem seien sie von diesen nicht einmal zuverlässig unterscheidbar. Im Unterschied zu „transgenen“ Organismen, die „artfremde“ DNA eines anderen Organismus enthalten, würden bei der „Cisgenese“ nur Kopien von genetischem Material aus verwandten Pflanzen eingefügt, das bereits im „züchterischen Genpool“ dieser Pflanzen irgendwo auf der Welt verfügbar ist. Was die EU-Kommission hier präsentiert, ist ein neues Narrativ, eine alternative Wahrheit darüber, was Gentechnik bedeutet und wie sie funktioniert.

Seit CRISPR-Cas vor zehn Jahren die Gentechnik-Branche neu beflügelt hat, wird dieses Narrativ massiv verbreitet: Das sei doch gar keine richtige Gentechnik mehr! Doch dann stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Jahre 2018 in einem Grundsatzurteil fest, dass sämtliche neuen Gentechnikverfahren unter das geltende, vorsorgende Gentechnikrecht der EU fallen. Mangels praktischer Erfahrung und dank neuer technischer Möglichkeiten könnten die neuen Gentechnikverfahren sogar deutlich riskanter sein als die alten. Seither arbeitet eine millionenschwere Industrielobby und eine eher bescheiden ausgestattete Abteilung der Generaldirektion Gesundheit bei der EU-Kommission daran, das Gesetz zu ändern, auf dessen Grundlage der EuGH urteilte: Wer das Urteil nicht ändern kann, muss das Gesetz umschreiben.

Der vielleicht besorgniserregendste Vorschlag der EU-Kommission liegt in der völlig neuen Herangehensweise an die Risikoabschätzung. Bei der Frage, um welche Art von GVO es sich handelt, soll künftig nicht mehr der reale Organismus, sondern nur noch das erfinderische Konzept untersucht werden. Die Hersteller teilen der Behörde die beabsichtigten Veränderungen mit und die Behörden müssen nach Aktenlage innerhalb von 30 Tagen (!) entscheiden. Eine konkrete Analyse möglicher, nicht beabsichtigter, Veränderungen ist dann nicht mehr vorgesehen. Risiken und Nebenwirkungen dagegen, so lehrt uns die Erfahrung, sollten wir gerade da suchen, wo wir sie nicht erwarten.

Denn CRISPR-Cas verursacht Brüche nicht nur an den beabsichtigten, sondern an allen Stellen, an denen es die Zielsequenz erkennt; auch in den Regionen des Genoms, die von Natur aus gegen zufällige Mutationen besonders gut geschützt sind. Die Behauptung, gezielte Mutationen durch CRISPR-Cas seien eigentlich nur harmlose, weil besonders präzise Varianten dessen, was in der Natur ständig passiert, hält deshalb der wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand.

Wahrscheinlichkeiten oder Präzision

Dies gilt auch für die Geschichte von der ungeheuren Präzision der neuen Gentechnologie. Erst wenn Forscher und Forscherinnen verstehen, in welche Zusammenhänge sie jeweils direkt oder indirekt eingreifen, können sie echte Präzision für sich in Anspruch nehmen. Wer dagegen bestenfalls Wahrscheinlichkeiten angeben kann, mit denen bestimmte, noch so präzise Veränderungen einzelner DNA-Abschnitte neue Eigenschaften hervorbringen, ist von echter Kausalität und verlässlicher Bewertung der Risiken noch weit entfernt. Auch ein mit äußerster Präzision geführter Schlag ins Wasser bleibt ein solcher.

Noch kann der Vorschlag der EU-Kommission im Europaparlament und im EU-Ministerrat scheitern. Politiker:innen sind, anders als die Kommission, gerade in Zeiten bevorstehender Wahlen, nicht allein dem Druck der Industrie und der von ihr in diesem Falle fast fehlerfrei orchestrierten Lobby interessierter Wissenschaftler*innen und Techniker*innen ausgesetzt, sondern auch dem ihrer Wähler*innen.

Dass fundamentale Veränderungen in der Landwirtschaft vonnöten sind, steht angesichts der Schäden, die wir der Natur derzeit zufügen, außer Frage. Gerade deshalb verbieten sich gentechnische „Idiotien“ wie die herbizidtoleranten Monokulturen von Bayer, Syngenta und Corteva und auch andere Fortführungen des chemischen Kampfes gegen die Natur mit biologischen Mitteln. Für die Firmen hat er vor allem den Vorteil, dass sie ihn anders als herkömmliche Züchtung mit Patenten schützen und die Entwicklung und Vermarktung neuer Sorten zu ihrem exklusiven Geschäft machen können. An erster Stelle muss vielmehr der Ausstieg aus Überdüngung und Vergiftung, aus ineffizienter (Über)-produktion, Verschwendung und aus der Verdrängung und Entmündigung bäuerlicher Existenzen stehen. Diese notwendige agrarökologische Umgestaltung zu verpassen wäre nicht nur riskant und fahrlässig, sondern mit Sicherheit eine tödliche Gefahr. Unsere Regierung muss auf dem europäischen Parkett eine zukunftsweisende Rolle einnehmen und sich in Allianzen mit anderen Mitgliedstaaten für die Gentechnikfreiheit unserer Landwirtschaft engagieren.


Dieser Artikel erschien am 23.09.2023 in der Rubrik “Analyse und Meinung” des Luxemburger Wort

* Benny Haerlin arbeitet für die „Zukunftsstiftung Landwirtschaft“ in Berlin und engagiert sich seit Jahrzehnten in europäischen Netzwerken für Gentechnikfreiheit. Er hat am Weltagrarbericht der UNO mitgearbeitet, war Abgeordneter des Europäischen Parlaments, Journalist und Autor. Raymond Aendekerk ist seit 2016 Direktor von Greenpeace Luxemburg; der studierte Agraringenieur engagiert sich beruflich seit 35 Jahren für Natur- und Umweltschutz und die biologische Landwirtschaft.